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Die Erinnerung bekommt Lücken

An Ton- und Videoaufnahmen nagt der Zahn der Zeit: Teils einmaliges Material ist schon verloren gegangen. Archive digitalisieren ihre Bestände, doch das ist ein langwieriges und teures Geschäft

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für Süddeutsche Zeitung

In den deutschen Rundfunkarchiven klaffen seit jeher erstaunlich große Lücken. In Hamburg beim heutigen NDR nahm das Archiv überhaupt erst 1955 seinen Betrieb auf – drei Jahre nach dem Start der Tagesschau. Doch selbst dann wurden bis in die Siebzigerjahre hinein meist nur einzelne Beiträge abgelegt, keine ganzen Sendungen – die Technik war noch nicht weit genug. Es musste schon jemand eine Kamera vor einem Fernseher postieren und das Programm abfilmen. Immerhin: Die DDR hat die Nachrichten des Klassenfeinds so festgehalten. Der Mauerfall war deshalb auch für die Rundfunkarchive ein Geschenk: Sie konnten große Lücken in ihren Beständen mit dem Material aus dem Osten stopfen.

„Uns hat tatsächlich die Feindbeobachtung geholfen“, sagt Maria Godsch. Sie leitet das NDR-Archiv, das zusammen mit Aufnahmen anderer Sender und Agenturen ein Fernseh-„Programmvermögen“ von 280000 Stunden umfasst. Godsch muss dafür sorgen, dass das Material nicht verkommt. Dafür wandelt der NDR gerade wie viele Archive seinen Bestand in Bits und Bytes um. „Alles in allem“ werde die Digitalisierung des TV-Archivs die Anstalt „etwa zehn Millionen Euro kosten und vermutlich zehn Jahre dauern“.

An einer Digitalisierung kommt kein Archiv vorbei. Töne und Videos, die auf klassischen Magnetbändern gesichert wurden, gehen kaputt. Der NDR hat noch bis vor drei Jahren sein Fernsehprogramm auf Kassetten mitgeschnitten. „Die sind zwar deutlich besser als die VHS-Kassetten, auf denen viele zu Hause Fernsehsendungen aufgenommen haben“, erklärt Godsch. Die Probleme seien jedoch dieselben wie im Hobby-Einsatz: „Die Bänder schmieren, verkleben und verlieren etwa durch den Erdmagnetismus auch bei guter Lagerung kontinuierlich Daten – Bilder etwa ihre Farben.“

Natürlich wissen Archivare um die kontinuierliche Bedrohungslage für ihr Material. So haben Rundfunkarchive ihre Bestände teils schon mehrfach auf neue Generationen von Magnetbändern überspielt, um ihr Material vor dem schleichenden Tod zu bewahren. Manch ein kleineres, aber ebenso wertvolles Archiv hat jedoch die Notwendigkeit, digitalisieren zu müssen, zu spät erkannt – oder nicht das Geld für die verlässliche Pflege seiner Bestände gehabt. Hier ist bereits heute teils einzigartiges Material verloren gegangen, etwa Interviews, die Historiker und engagierte Bürger mit Überlebenden des Holocausts geführt haben.

Wie unerbittlich der Zahn der Zeit an alten Aufnahmen nagen kann, hat etwa Archivar Albert Knoll an der Gedenkstätte des Dachauer KZ erlebt. Dort hatten Mitarbeiter 1973 mit dem Projekt „Häftlinge der ersten Stunde“ begonnen, um das Grauen, das diesen widerfahren ist, so authentisch wie möglich für die Nachwelt festzuhalten. Allein: „Die Aufnahmegeräte waren damals schon sehr mickrig“, sagt Knoll. Mit der Zeit sei das „ohnehin technisch dürftige Material“ dann noch weiter kaputtgegangen: „Da mussten wir einiges wegschmeißen, weil es nicht mal mehr im Ansatz zu gebrauchen war.“

Knoll sagt, der Gedenkstätte sei „seit gut zehn Jahren bewusst gewesen“, dass etwas hätte getan werden müssen, doch „den Gedenkstätten der alten Bundesrepublik wurde die finanzielle Förderung erst im Laufe der 2000er-Jahre genehmigt“, bedauert Knoll. Der Archivar sagt aber auch: Digitale Speicher seien vor allem für opulente Videodateien noch zu teuer gewesen. „Material immer wieder umspielen, wie das die Sender in der Zwischenzeit gemacht haben, das konnten wir uns einfach nicht leisten“, sagt Knoll. Inzwischen werde aber zumindest der Großteil des erhaltenen Materials digitalisiert.

Anderorts bleiben die Aufzeichnungen von Zeitzeugen in Gänze erhalten. Die Shoah Foundation in den USA, die vermutlich den größten Bestand ihrer Art aufbewahrt, meldet auf Anfrage: Alle 53000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden seien zuletzt digitalisiert worden. Die Originale würden zudem „sicher in einem Safe“ gelagert.

Besonders aufwendig ist die Digitalisierung alter Video- und Tonaufnahmen der deutsch-deutschen Geschichte. In der Berliner Stasiunterlagen-Behörde arbeitet inzwischen eine ganze Abteilung daran, gut 30000 Bänder auf Server zu spielen – es ist Material, das der Überwachungsstaat beim ausdauernden Ausspähen seiner Bürger ansammelte – über Wanzen in den Wohnungen oder beim Mitschneiden von Verhören.

„Bei Magnetbändern sind wir nach 30 Jahren an einen Punkt, wo wir nicht mehr garantieren können, dass die Informationen tatsächlich noch auf dem Band sind, die dort einmal gespeichert wurden“, sagt Jens Niederhut, der das Digitalisierungsprojekt leitet. „Und die Staatssicherheit existiert nun mal seit 25 Jahren nicht mehr. Das heißt: Alle Tonbänder sind mindestens 25 Jahre alt, viele aber auch 40, 50 oder 60 Jahre.“

Ein Drittel haben die Archivare bereits eingespielt – alles in Echtzeit, um bei Fehlern sofort eingreifen zu können. Weil die Stasi über die Jahre viele verschiedene Bandtypen eingesetzt hat, müssen die Archivare zwischendurch auch die Abspielgeräte in Schuss halten. „Vieles davon gibt es heute auf dem Markt nicht mehr“, berichtet Niederhut und erzählt: Er streift mit seinen Technikern schon mal am Wochenende über Flohmärkte in Ostberlin, um Ersatzteile aufzutreiben, oder klickt sich mit seinen Kollegen durch eBay.

Beim NDR haben sie diese Probleme nicht. Von wenigen besonderen Schätzen wie den historischen Tagesschauen oder einmaligem Material aus der Wendezeit einmal abgesehen, läuft die Digitalisierung am Fließband. „Da arbeiten Maschinen stapelweise Kassetten ab“, sagt Chef-Archivarin Godsch. Allerdings helfe im Hintergrund ein Algorithmus dabei, Lücken oder Materialschäden auf den Bändern zu erkennen und notfalls Alarm zu schlagen, damit die Experten retten, was noch gerettet werden kann.

Ist das Material einmal digitalisiert, leben im Digitalen schließlich zwei Kopien weiter, eine in dem zentralen Rechenzentrum der ARD in Berlin und zusätzlich eine Sicherheitskopie in Leipzig. Wenn die Archivare dann nach ein paar Jahren das Vertrauen in das digitalisierte Material gewonnen haben, vernichten sie die Originale.

Beim Hörfunk, dessen Archiv zuerst in Einsen und Nullen umgewandelt wurde, leeren sie gerade die Keller. Beim Fernsehen will der NDR noch ein paar Jahre damit warten. Aber dann schafft Godsch Freiraum: „Alles in allem werden etwa 25000 Regalmeter frei.“

Fünfundzwanzig Kilometer Regalfläche – Platz, den dann nie wieder jemand brauchen wird.

>> zur Originalveröffentlichung auf sz.de


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